Risiko und Grippeimpfung

Wissenschaft verstehen Teil 1 – Warum es sich lohnt, den Unterschied zwischen relativem und absolutem Risiko zu kennen…

Nichts geschieht ohne Risiko, aber ohne Risiko geschieht auch nichts.

Walter Scheel

Auf einem Kampagnen-Plakat der BZgA las ich, dass  für die Schutzimpfung gegen Influenza-Viren, also die Grippe, die „Schutzwirkung (…) bei Ihnen [gemeint sind Erwachsene] zwischen 59% und 67%“ liegt. Bei Kindern und Jugendlichen liegt sie etwas höher (59% bis 75%) und bei älteren Erwachsenen etwas niedriger (41% bis 63%). Das ist korrekt und gleichzeitig potentiell missverständlich für jemandem, der den Unterschied zwischen absolutem und relativem Risiko nicht kennt. 

Worüber sprechen wir genau?

Um das zu verstehen braucht es paar klugscheißerische Grundlagen. Diese lesen sich vielleicht etwas trocken, lohnen sich aber zu verstehen, weil man in medizinischen Studien natürlich immer wieder dem Thema Risiko begegnet.

https://www.aau.at/blog/corona-pandemie-wie-nehmen-wir-risiko-wahr/
1. Risikoreduktion

Eine Risikoreduktion gibt die Wirksamkeit einer Therapie im Vergleich zu einer anderen oder keiner Therapie an, also in unserem Fall die Senkung des Risikos an einer Grippe zu erkranken nach einer Impfung im Vergleich zur umgeimpften Bevölkerung. Diese Risikoreduktion bezieht sich entweder auf die Änderung des relativen Risikos oder auf die Änderung des absoluten Risikos.

2. Absolutes Risiko

Das absolute Risiko gibt das Risiko einer Grundgesamtheit an, eine bestimmte Krankheit zu bekommen; in unserem Fall etwa das Risiko von 1000 Menschen, mit einer Grippe im Bett zu liegen. Die absolute Risikoreduktion ist demnach das absolute Ändern eines Ereignisses durch eine therapeutische Intervention bezogen auf alle Untersuchten. Angenommen von 1000 unbehandelten Menschen erkranken 50, in einer Gruppe von 1000 behandelten (also zum Beispiel gegen bestimmte Krankheit geimpften) Menschen erkranken 30, dann sinkt das absolute Erkrankungsrisiko um wie viel? Genau: um 20 Menschen, also auf die 1000 Menschen bezogen sinkt das absolute Erkrankungsrisiko von 5% auf 3%. Die absolute Risikoreduktion liegt demnach bei 2% (5% – 3%).

3. Relatives Risiko

Das relative Risiko hingegen gibt den Faktor an, um den sich ein Risiko in zwei Gruppen unterscheidet. In unserem Fall würden wir nach dem Verhältnis der Wahrscheinlichkeiten der Erkrankungsrisiken in beiden Gruppen sehen, der Gruppe der geimpften also die Gruppe der nicht geimpften Personen gegenüberstellen. Wenn wir die (fiktiven) Zahlen von oben erneut bemühen, dann ergibt sich ein relatives Erkrankungsrisiko von 5% zu 3%, also eine relative Risikoreduktion von 40%. Aufgedröselt: 3% / 5% = 0,6 = 1 – 0,4 = 1 – 40%

4. Number needed to treat (NNT)

Als letzte Kenngröße erläutere ich noch die Number needed to treat (Anzahl notwendiger Behandlungen), kurz NNT. Im Bezug auf Impfungen wird auch von der Number needed to vaccinate, also der NNV gesprochen. Sie gibt die Anzahl der Patienten an, die während eines definierten Zeitraums mit einer bestimmten Intervention (egal ob Herzschrittmacher, Thrombektomie oder eben Impfstoff) behandelt werden muss, damit eine Komplikation bzw. Krankheitseintritt, die ohne die Intervention aufgetreten wäre, verhindert wird. Wenn die NNT für ein Medikament, das Herzinfarkte verhindert, eine NNT von 70 hat, dann bedeutet das: 70 Patienten müssen ein Jahr lang das Medikament nehmen, damit rechnerisch einer davon keinen Herzinfarkt bekommt. 

https://www.medicalone.com.au/2020-flu-vaccine-information-and-availability
Was bedeutet das für die Grippeimpfung?

So, jetzt wird es anschaulich und wir wenden uns wieder der Grippeimpfung zu! In einer Metaanalyse, in welcher die Daten von insgesamt 38000 Erwachsenen analysiert wurden, zeigte sich, dass das Erkrankungsrisiko nach einer gut ausgewählten und an die jeweiligen Grippe-Viren „der Saison“ angepasste Impfung bei 1,2% lag, im Gegensatz dazu trat die Erkrankung ein bei 3,9% in der (nicht geimpften) Kontrollgruppe (NNT 37). [1] Das Erkrankungsrisiko nach einer unsicheren Impfung lag bei 1,1% bzw. 2,4% in der (ebenfalls nicht geimpften) Kontrollgruppe (NNT 77). [1]

Bei der „guten“ Impfung ergibt sich also eine absolute Risikoreduktion um 2,7% und eine relative um 70% (1,2% / 3,9% = 0,3 = 1 – 0,7 = 1 – 70%). Bei den Impfstoffen, die weniger gut auf die Viren „vorbereitet“ waren ergibt sich eine absolute Risikoreduktion vom 1,3% und eine relative Risikoreduktion von 54% (1,1% / 2,4% = 0,46 = 1 – 0,54 = 1- 54%).

Die Quintessenz aus dieser Meta-Analyse anders formuliert: Wenn ich mich gegen die Influenza-Viren impfen lasse, dann sinkt mein absolutes Risiko an einer Grippe zu erkranken zwischen 1,3% und 2,7%, das relative Risiko sinkt zwischen 54% und 70%.

Die Quintessenz?

Die Message ist jetzt vermutlich klar: auch wenn dem Fact-Sheet der BZgA offensichtlich andere Studien und damit geringgradig differierende Ergebnisse (59% und 67% statt 54% bis 70%) zugrunde liegen, erscheint die Reduktion des relativen Risikos mit 59% bis 67% für den Laien und vor dem Hintergrund der absoluten Risikoreduktion weniger beeindruckend als es sich zunächst liest. Dieser „Trick“ wird häufig genutzt, insbesondere wenn populärwissenschaftliche Medien Studienergebnisse zu sehr simplifizieren und mit reisserischen Überschriften Clickbait betreiben (so wie ich das bisweilen in meinem Blog ebenfalls tue 😉 ). Also: wer in Zukunft davon ließt, dass eine tolle neue (wow…) medizinische (krass…) Studie von Forschern (na, mach Sachen… das waren auch noch Forscher!) ergeben hat, dass mitternächtliche Purzelbäume, das Idiotie-Risiko um 80% senken soll, der weiß woher vermutlich der Wind weht und sollte sich sowohl das absolute als auch das relative Risko ansehen, um zu einer guten Einschätzung zu gelangen.

Inhaltliche Ergänzung zur Grippeimpfung

Unabhängig von unsere kleinen Ritt durch die Statistik lässt sich zur Influenza-Impfung sagen: Wünschenswert wäre natürlich eine stärkere Schutzwirkung oder gar ein mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bestehenden Immunität, wie das beispielsweise bei einer Impfung gegen Tetanus der Fall ist – dem ist aber eben nicht so. Die Impfung schützt nicht sicher, sondern sie reduziert das Risiko für eine Influenza-Infektion um die oben erläuterten Werte. Ergänzend ist wichtig, dass schwere Nebenwirkungen – wenn auch sehr, sehr selten – auftreten können. Bekannt ist etwa das Beispiel des Impfstoffes Pandemrix gegen den Influenzavirus H1N1A/v der Saison 2009/2010, der jeweils auf 100.000 Impfungen bei vermutlich 2 – 6 Kindern und 0,6 – 1 Erwachsenen die Manifestation einer Narkolepsie verusacht hat. Außerdem reagieren manche Menschen mit leichten unerwünschten Arzneimittelwirkungen wie Fieber. Die Empfehlung des RKI lautet, dass alle Menschen ab 60 und und bestimmte Risikogruppen bzw. Kontaktpersonen geimpft werden sollten.

Also: gegen Grippe impfen lassen oder nicht?

Es gibt zwar die offiziellen Empfehlung des RKI, jedoch sollte meiner Ansicht nach immer eine individuelle, auf das eigene Risiko und die Menschen im persönlichen Umfeld angepasste Entscheidung getroffen werden. Insgesamt ist aus meiner Sicht sowohl die Entscheidung für eine Impfung als auch die gegen eine Impfung nachvollziehbar und vertretbar. Für die von einigen PolitikerInnen und ÄrztInnen vertretene Meinung, es sei bedingungslos gut, sich die jährliche Schutzimpfung gegen Influenza abzuholen, gibt es keine wissenschaftliche Grundlage.

Aber…!

Jetzt noch ein Wort an all diejenigen, die auch nach der Ergänzung zur Influenza-Impfung im vorangehenden Absatz kurz davor stehen, mir an die Gurgel zu springen, weil sie es unverantwortlich finden wie ich über „das Thema Impfen“ schreibe. 

  1. „Das Thema Impfen“ gibt es nicht. Es gibt verschiedene Impfstoffe mit verschiedenen Indikationen, die individuell abgewogen werden sollten. Wer die pauschale Wahrheit zu allen Impfstoffen zu wissen glaubt ist ein Idiot – egal ob er sich dabei als vehementer Impf-Gegner positioniert oder unreflektiert alles reinpfeift was es im Angebot gibt.
  2. Wer sich getriggert fühlt und denkt, dass dieser Artikel zu sehr im Sinne der Impfung argumentiert, sollte bedenken, dass eine Influenza-Infektion für ältere Menschen und Risikogruppen eine deutlich steigende Letalität aufweist und dort in der Masse auch eine geringe Risikoreduktion letztlich eine enorme Wirkung entfalten kann. [2]
  3. Wer sich getriggert fühlt und denkt, dass ich die Schutzwirkung unangemessen herunter spiele, der darf sich vor Augen führen, dass ich lediglich Zahlen aus einer peer-reviewten Publikation erläutere, zu der es zig Arbeiten gibt, die zu vergleichbaren Ergebnissen kommen. Abgesehen davon beruhen die aktuellen Empfehlungen – und auch dieser Artikel – zum Großteil auf Beobachtungsstudien, die vermutlich gebiased und beispielsweise mit dem „healthy vaccine recipient effect“ verzerrt sind. [3] Wenn man sich auf Cochrane Auswertungen stützt, die nur RCTs mit einbeziehen, wird die Sinnhaftigkeit der Grippeimpfung tatsächlich fragwürdig. Diese kommen nämlich zu dem Schluss, dass möglicherweise ein Vorteil für PatientInnen mit COPD, hämatologischen oder Immunsupression bestehen könnte, finden jedoch darüber hinaus keinen Mehrwert (z.B. für die in der RKI-Empfehlung einbezogenen Ü-65 PatientInnen) und sprechen auch keine allgemeine Empfehlung für die Impfung aus. [4]

That’s it folks…


Literaturverzeichnis

[1] Kolber MR, Lau D, Eurich D, Korownyk C. Effectiveness of the trivalent influenza vaccine. Can Fam Physician. 2014 Jan;60(1):50. PMID: 24452561; PMCID: PMC3994812.

[2] Hilleman MR. Realities and enigmas of human viral influenza: pathogenesis, epidemiology and control. Vaccine. 2002 Aug 19;20(25-26):3068-87. doi: 10.1016/s0264-410x(02)00254-2. PMID: 12163258.

[3] Jackson ML, Nelson JC. The test-negative design for estimating influenza vaccine effectiveness. Vaccine. 2013 Apr 19;31(17):2165-8. doi: 10.1016/j.vaccine.2013.02.053. Epub 2013 Mar 13. PMID: 23499601.

[4] Østerhus SF. Influenza vaccination: a summary of Cochrane Reviews. Eur J Clin Microbiol Infect Dis. 2015 Feb;34(2):205-13. doi: 10.1007/s10096-014-2236-2. Epub 2014 Sep 4. PMID: 25185860.

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