Medizin ist eine Disziplin, die ihre Leistung in der direkten Interaktion vollzieht und ihre Qualität bemisst sich nach dem Kriterium der gelingenden Interaktion im Hier und Jetzt. Ihre Qualität ist die Qualität des Wissens in Verbindung mit der Qualität der Beziehung.
Giovanni Maio
(Miss-)Erfolge der konventionellen Biomedizin
Beflügelt von den großen Erfolgen der naturwissenschaftlich fundierten Medizin hat sich im letzten Jahrhundert eine mechanistische Sichtweise, geprägt von Reduktionismus und Dualismus, auf Patienten entwickelt. Zweifelsohne hat diese mechanistische Medizin es in den somatischen Fächern weit gebracht: In der Notfallmedizin hat sich über die Zeit ein profundes Wissen über effektive Maßnahmen angesammelt, das tagtäglich Leben retten. Von manchen Impfstoffen über moderner Labordiagnostik bis hin zu komplexer Neurochirurgie lässt sich die Liste der Errungenschaften, auf welche die etablierte Schulmedizin mit Stolz verweisen kann, beliebig fortführen. Gleichzeitig fehlen ihr bei vielen insbesondere chronischen Erkrankungen, bei Allergien oder Autoimmunerkrankungen gute Antworten. Dort ist manchmal eine Linderung der Beschwerden möglich, häufig durch Medikamente mit Nebenwirkungen oder unfassbar hohen Entwicklungskosten teuer erkauft, selten aber eine langfristige Heilung. Und hier kommt aus meiner Sicht die Psyche der Patienten ins Spiel, beziehungsweise die Tatsache, dass die etablierte Medizin dieser viel zu wenig Beachtung schenkt.
Nachfrage für Komplementärmedizin
Zunächst erklärt sich meiner Ansicht nach durch diese mangelnde Anerkennung seelischer Aspekte in der Medizin auch die Nachfrage nach komplementärmedizinischen Verfahren in den letzten Jahren, welche – pauschal gesprochen – dem Patienten in seiner Individualität und Ganzheit, also auch seinen seelischen Bedürfnissen, mehr Beachtung schenken. Wenn mir als Patient im Rahmen einer homöopathischen Erstanamnese der Arzt zwei Stunden zuhört und ich weiß, dass er sich im Anschluss differenzierte Gedanken zu meiner Erkrankung und meinem Genesungsprozess machen wird, dann weckt diese rituelle Arzt-Patienten-Begegnung eine enorme Erwartungshaltung und hat riesiges Potential Selbstheilungskräfte in mir zu mobilisieren. Ich bin deswegen der Letzte, der irgendjemandem seine geliebte Homöopathie wegnehmen möchte. Und ich sage auch nicht, dass sie nicht wirkt, denn die Erfahrung, dass sie wirkt, machen tagtäglich tausende von Menschen, Patienten und Ärzte gleichermaßen. Sie wirkt eben nur nicht besser als ein Placebo, das randomisiert und kontrolliert angeboten wird. Ich treffe regelmäßig Menschen, die Gegenteiliges behaupten, die aber selbst nie die großen Übersichtsarbeiten der letzten 20 Jahre, die bisher immer wieder zum gleichen Ergebnis gelangt sind, gelesen haben – sonst würden sie mir vermutlich bestimmen.
Die Psyche wirkt
Der Schlüssel zur Wirkung der homöopathischen Mittel liegt also aus meiner Sicht nicht in den potenzierten Medikamenten, sondern in uns selbst. Letztlich sind natürlich viele Therapien in der Medizin „nur“ Beziehungsmedizin. Diesbezüglich sei nur auf die Placebo-Kniearthroskopien, die im Ergebnis genauso heilsam waren wie die tatsächlich durchgeführten Eingriffe oder die eindrücklichen Versuche zur Schmerzwahrnehmung verwiesen, die zeigen welche immensen Anteil an einer Schmerzreduktion die Psyche bzw. die Kommunikation durch den Arzt hat und, dass schmerzlindernde Medikamente sogar Schmerzen verstärken, wenn ihnen diese Eigenschaft den Patienten gegenüber zugeschrieben wird. [1] [2] Das was also oft geringschätzend „nur“ auf Placebo zurückgeführt wird, sollte erst recht eine Erinnerung an alle Ärzte sein, genau diesen Effekt voll auszukosten, um die Wirkung aller allopathischen Medikamente und Therapien noch zu verstärken.
Ich weiß, dass man nicht alle komplementären Verfahren in einen Topf werfen darf, denn zwischen fundiert angewandter Osteopathie und einer Räucherstäbchentherapie von jemandem, der mal einen VHS-Kurs dazu besucht hat, dürfte ein himmelweiter Unterschied bestehen. Außerdem erwähne ich hier die Homöopathie nur, weil sie sich gut eignet, um meine Perspektive zu verdeutlichen. Die beschriebenen Mechanismen, Wahrnehmungen und Forschungsergebnisse lassen sich im Grundsatz auf viele andere komplementärmedizinische Verfahren übertragen.
Soma und Psyche sind untrennbar
So, nun zurück zu der Tatsache, dass der Mensch mit Körper und geistig-seelischem Erleben auf die Welt plumpst, und der Frage warum beide Ebenen eine Rolle bei Erkrankungs- und Genesungsprozessen spielen. Der eine oder andere alt eingesessene, mechanistisch gepolte Chirurg mag darüber noch müde lächeln, aber de facto gibt es heute einen unerschöpflichen Fundus wissenschaftlicher Ergebnisse, der ein solches – so ausgelutscht der Begriff auch sein mag – ganzheitliches Menschenbild legitimiert und einfordert.
Psychoneuroimmunologie als naturwissenschaftliche Basis
Dieses Forschungsfeld, das sich mit Interaktionen zwischen Psyche, Gehirn und somatischen Organisationsebenen wie dem Immun- und Hormonsystem befasst, wird häufig unter dem Schlagwort der Psychoneuroimmunologie (PNI) verortet, wer es noch bunter mag kann auch von Psychoneuroendokrinoimmunologie sprechen (also Lehre von Psyche, Nervensystem, Hormonsystem und Immunsystem). Dabei bewegt sich die PNI hauptsächlich zwischen den Bereichen Immunologie, Endokrinologie, Psychosomatik und Psychologie, Neurowissenschaften und Neurologie, wobei fachliche Überschneidungspunkte auch mit den Sozialwissenschaften, der Philosophie und der Theologie bestehen.
Erste Hinweise vor über 30 Jahren
Eine Art Startschuss für die PNI gaben Robert Ader und Nicholas Cohen 1974 als sie Ratten einen Süßstoff zusammen mit einem Immunsuppressivum verabreichten, das für manche der Nager tödlich war. Als sie den überlebenden Ratten später nur (!) den Süßstoff verabreichten starben diese trotzdem, und zwar in Abhängigkeit der Dosis des Süßstoffs. [3] Das Immunsystem war durch den Geschmack so konditioniert worden, dass es auch ohne von außen zugeführte Schwächung in die Knie gezwungen wurde. Die beiden Forscher hatten also erstmalig und entgegen der damals unangefochtenen Meinung, dass das Immun- und Nervensystem voneinander unabhängige Entitäten seien, das Gegenteil bewiesen, nämlich dass die beiden Organisationsebenen eine gemeinsame biochemische Sprache sprechen. Darauf aufbauend wurde nachgewiesen, dass neuronale Strukturen Rezeptoren für Immunzellen exprimieren und Zytokine freisetzen und gleichzeitig Immunzellen Neurotransmitter und neuroendokrine Peptide exprimieren. Man könnte also von „Immunhormonen“ und „Neurozytokinen“ sprechen. [4] [5] Kurzum: zwischen den verschiedenen Organisationsebenen bestehen konkrete Kommunikationswege, der Organismus als Ganzes setzt sich also aus mehreren, rückbezüglich in Wechselwirkung stehenden Einheiten zusammen, etwa dem Immun-, Hormon- und Nervensystem, aber eben auch dem psychischen Erleben.
Von der theoretischen Grundlagenforschung in die Praxis
Diese recht theoretisch anmutenden Erkenntnisse der Grundlagenforschung bilden sich in zahllosen klinischen Untersuchungen ab, die zeigen wie sich eben körperliche Organisationsebenen, beispielsweise das Immunsystem, und die Psyche des Menschen gegenseitig beeinflussen. Als ein spezifisches, mehrfach repliziertes Beispiel zur Veranschaulichung sei der Einfluss von Stress auf den basalen körperlichen Vorgang der Wundheilung genannt. Eine Metaanalyse zeigte, dass sich Stress verzögernd auf verschiedene Arten der Wundheilung auswirkt. [6] Und unter einem therapeutischen Blickwinkel legte eine andere Studie nahe, dass Achtsamkeitsmeditation im Rahmen eines MBSR-Kurses unterstützende Wirkung auf den Wundheilungsprozess haben kann. [7] Aber auch für andere Leiden, beispielsweise der weit verbreiteten koronaren Herzerkrankung, konnte gezeigt werden, dass durch psychologische Interventionen etwa zum Stress-Management sowohl die Lebensqualität als auch klinische Ergebnisse verbessert werden können. [8] Das klinische Outcome solcher Patienten mit koronarer Herzkrankheit konnte im Falle einer Bypass-Operation außerdem mit nur einem psychotherapeutischen Gespräch zu gezieltem Erwartungsmanagement verbessert werden. [9] Aber nicht nur Wundheilung und koronare Herzkrankheit, sondern etliche weitere, vermeintlich rein somatische Erkrankungen wurden im Hinblick auf die Wechselwirkungen zwischen Körper und Geist untersucht, und beispielsweise für das Cushing-Syndrom, kardiovaskuläre Erkrankungen oder Psoriasis ein Zusammenhang mit „stressfull life events“ hergestellt. [10] [11] [12]
Die Liste der angeführten Beispiele, die eine Modell von Krankheit und Gesundheit, in dem sich Körper und Psyche wechselseitig beeinflussen, einfordert, ließe sich beliebig erweitert; regelmäßig werden neue Forschungsergebnisse in diesem Bereich auch in meinem Blog unter dem Stichwort PNI veröffentlicht. Eine Ganzheitlichkeit des menschlichen Organismus im Sinne der Psychoneuroimmunologie ist also heute kein esoterisches Gesülze an das man glauben muss, sondern naturwissenschaftlich fundierte Forschungslage. Und die Implikationen, die sich hieraus für die Medizin ergeben, sind offensichtlich: wenn wir diese Forschung ernst nähmen bliebe uns gar nichts anderes übrig als ein Menschenbild zu entwickeln, das Körper und Geist gleichermaßen anerkennt, und Patienten nach diesem zu behandeln.
Psychosomatik braucht Somatopsychik
Dass dies nicht nur auf die somatische Medizin, sondern genauso auf die Psychiatrie und Psychosomatik zutrifft und dort in der klinischen Praxis erstaunlicherweise noch weniger angekommen zu sein scheint als in den somatischen Fächern, irritiert mich massiv. Warum arbeitet man nicht auch mit dem Körper der PatientInnen, wenn sie ihn schon jedes Mal durch die Tür ins Therapiezimmer schleifen? Jedenfalls braucht es dazu bei Zeiten einen eigenen Artikel 😉
Fazit: ein ganzheitliches Menschenbild ist notwendig
In jedem Fall bleibt festzuhalten: An das bio-psycho-soziale Modell muss man heute nicht mehr glauben. Dass wir Menschen mit Körpern herumlaufen und gleichzeitig mit einem psychischen Erleben ausgestattet sind und dass sich diese Organisationsebenen gegenseitig beeinflussen, das ist nicht nur recht einfach zu beobachten, sondern auch sehr gut und aus vielfältigsten Perspektiven belegt. Es bleibt zu hoffe, dass diese Erkenntnisse in absehbarer Zeit knallhart zieldienlichen Konsequenzen für die Patienten nach sich ziehen.
Literaturverzeichnis
[1] Moseley JB, O’Malley K, Petersen NJ, et al. A controlled trial of arthroscopic surgery for osteoarthritis of the knee. N Engl J Med. 2002;347(2):81-88. doi:10.1056/NEJMoa013259
[2] Aslaksen PM, Zwarg ML, Eilertsen HI, Gorecka MM, Bjørkedal E. Opposite effects of the same drug: reversal of topical analgesia by nocebo information. Pain. 2015;156(1):39-46. doi:10.1016/j.pain.0000000000000004
[3] Ader R, Cohen N. Behaviorally conditioned immunosuppression. Psychosom Med. 1975;37(4):333-340. doi:10.1097/00006842-197507000-00007
[4] Parnet P, Brunke DL, Goujon E, et al. Molecular identification of two types of interleukin-1 receptors in the murine pituitary gland. J Neuroendocrinol. 1993;5(2):213-219. doi:10.1111/j.1365-2826.1993.tb00384.x
[5] Blalock JE, Harp C. Interferon and adrenocorticotropic hormone induction of steroidogenesis, melanogenesis and antiviral activity. Arch Virol. 1981;67(1):45-49. doi:10.1007/BF01314600
[6] Walburn J, Vedhara K, Hankins M, Rixon L, Weinman J. Psychological stress and wound healing in humans: a systematic review and meta-analysis. J Psychosom Res. 2009;67(3):253-271. doi:10.1016/j.jpsychores.2009.04.002
[7] Meesters A, den Bosch-Meevissen YMCI, Weijzen CAH, et al. The effect of Mindfulness-Based Stress Reduction on wound healing: a preliminary study. J Behav Med. 2018;41(3):385-397. doi:10.1007/s10865-017-9901-8
[8] Schneider RH, Grim CE, Rainforth MV, et al. Stress reduction in the secondary prevention of cardiovascular disease: randomized, controlled trial of transcendental meditation and health education in Blacks. Circ Cardiovasc Qual Outcomes. 2012;5(6):750-758. doi:10.1161/CIRCOUTCOMES.112.967406
[9] Rief W, Shedden-Mora MC, Laferton JA, et al. Preoperative optimization of patient expectations improves long-term outcome in heart surgery patients: results of the randomized controlled PSY-HEART trial. BMC Med. 2017;15(1):4. Published 2017 Jan 10. doi:10.1186/s12916-016-0767-3
[10] Sonino N, Fava GA, Grandi S, Mantero F, Boscaro M. Stressful life events in the pathogenesis of Cushing’s syndrome. Clin Endocrinol (Oxf). 1988;29(6):617-623. doi:10.1111/j.1365-2265.1988.tb03709.x
[11] Rozanski A, Blumenthal JA, Kaplan J. Impact of psychological factors on the pathogenesis of cardiovascular disease and implications for therapy. Circulation. 1999;99(16):2192-2217. doi:10.1161/01.cir.99.16.2192
[12] Schmid-Ott G, Jacobs R, Jäger B, et al. Stress-induced endocrine and immunological changes in psoriasis patients and healthy controls. A preliminary study. Psychother Psychosom. 1998;67(1):37-42. doi:10.1159/000012257
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